Sonntag, 20. Juni 2010

29 - HEILIGE AUS DER SICHT VON MILAN KUNDERA

"Soweit ich mich auf das verlassen kann, was die Lehrer uns erzählt haben, sahen die Christen im irdischen Leben nur ein Jammertal und freuten sich darauf, dass das wahre Leben nach dem Tode anfinge"

"Liebes Fräulein" sagte Bertlef "glauben Sie den Lehrern nicht"

"Und alle Heiligen" fuhr Olga fort "haben nichts anderes getan, als dem Leben zu entsagen.Statt einander zu lieben, geißelten sie sich, statt sich zu unterhalten wie wir, gingen sie in die Wüste, und statt sich telephonisch ein Abendessen zu bestellen, kauten sie Wurzeln."

"Sie verstehen die Heiligen überhaupt nicht. Es waren Menschen, die unendlich an den Genüssen des Lebens hingen, nur erreichten sie diese auf anderen Wegen.Was glauben Sie, ist für den Menschen der höchste Genuss? Sie können raten, würden aber schlecht raten, weil Sie nicht aufrichtig genug sind. Das ist kein Vorwurf,denn zur Aufrichtigkeit gehört Selbsterkenntnis. und zur Selbsterkenntnis ein gewisses Alter. Wie könnte ein Mädchen aufrichtig sein, das vor Jugend strahlt wie Sie ? Sie kann nicht aufrichtig sein, weil sie nicht einmal weiß, was in ihr steckt. Wüsste sie es aber, müsste sie mit mir übereinstimmen, dass der größte Genuss darin liegt, bewundert zu werden.

Olga gab zur Antwort, sie kenne bessere Genüsse.

"Das tun Sie nicht" sagte Bertlef "Nehmen Sie diesen Läufer, den hierzulande jedes Kind kennt, der dreimal hintereinander die Olympiade gewonnen hat. Glauben Sie, er habe den Freuden des Lebens entsagt ? Und dabei musste er zweifellos statt zu plaudern, zu lieben und zu schmausen, ständig auf einem Sportplatz im Kreis herum laufen. Sein Training sah dem sehr ähnlich, was unsere großen Heiligen getan haben.Makarios der Ägypter füllte, als er in der Wüste lebte, regelmäßig einen Korb mit Sand, band ihn sich auf den Rücken und wanderte damit viele Tage lang über die endlosen Ebenen, bis zur völligen Erschöpfung. Aber offensichtlich gab es für Ihren Läufer und für Makarios den Ägypter irgendeine große Entschädigung, die alle Mühen bei weitem wettmachte. Wissen Sie, was es bedeutet, den Beifall eines riesigen olympischen Amphitheaters zu hören ? (...) Der Heilige Makarios wusste genau, weshalb er einen Korb mit Sand auf dem Rücken trug. Der Ruhm seiner Rekordreisen verbreitete sich bald in der ganzen christlichen Welt (...) Der sehnliche Wunsch nach Bewunderung ist unstillbar.